Himmelsbrief an Marcel Proust

Sie reden dauernd über die Zeit.
Wie die Zeit verfliegt! hecheln sie und hasten weiter.
Gewaltig! rufen sie und tanzen den Mondtanz.
Tanzen zu dem, was sie zu sein glauben, zu werden glauben, zu sehen glauben.
Es tur sich was in New York, London, Berlin, Paris!
Gebissen vom Zahn der Zeit, macht ihnen der Begriff Zeit ein schlechtes Gewissen.
Vielleicht haben sie einen Vertrag einzuhalten.
Eine Wette mit der verlorenen Zeit.

Wenn sie nicht über sich selbst reden, reden sie übers Wetter.
Das Wetter nimmt sie sehr in Beschlag.
Besonders Regen.
Sie hassen Regen.
Wenn es nur nicht regnet! stöhnen sie und tauschen heimliche Signale aus.
Als wären wir alle Mitverschwörer:
«Moderne Menschen gegen schlechtes Wetter!»
Der Regen ruiniert ihre italienischen Schuhe.
Krokodilleder von Gucci.
Lackschuhe von Charles Jourdan.
Die Möglichkeiten zu schicker Persönlichkeitsentfaltung verringern sich proportional zum Regen, der sich ergiesst.
Die Geburt der Tragödie ist die Jagd nach Plastik-Galoschen.
Die Zeit ein Surfbrett.
California!

Nur tröstlich, dass zu viel Sonne beschissen ist.
Zuerst sind sie verrückt danach.
Können nicht genug kriegen!
Die Tage am Strand, die Stunden auf der Terasse, die bronzene Haut, das Gefühl von Kraft und Stärke.
Aber zu viel Sonne lässt sie schnaufen wie Walrosse.
Sie klatschen sich Duftwasser von Armani unter die Arme.
Furchtbar heiss! schnaufen sie und suchen Schatten.
Cocktails sind erfrischende Getränke.
Aber sie fürchten das Dunkel.
Das Dunkel ist Kurzschluss im Computer-System.
Das Dunkel ist farbige, muskulöse Teens mit roten Joggenschuhen.
Das Dunkel ist die Rückseite des Mondes.

Angesagt ist, reich und berühmt zu werden.
Die Reichen und Berühmten trinken dauernd Schampus.
Und sie kennen die richtigen Leute!
Nicht das Gesocks, mit dem sich die anderen abzuplagen haben.
Sie sprechen nur eine Sprache: die Sprache des Reichtums und des Ruhms.
Sprache ist Macht, und diese Sprache bezwingt die Zeit.
Reiche und berühmte Männern sind dauernd von hübschen Frauen umgegeben.
Knackige Blondinen in knallengen Kleidern.
Junge Schnallen auf hohen Hacken.
Töchter mit Augen wie geheime Nummerkonten.
Selbst ein Dorftrottel kann mit Knete ein geklonter Rockefeller werden.
Spielt keine Rolle, wenn du aussiehst wie Sau.
Geld ist Magnetismus!

Poeten können nicht tanzen.
Sie wollen Frauen haben, mit denen sie reden können.
Jetzt weiss man, um welchen Sorte Männer es sich dreht.
Eine Zeitlang war es out, Künstler zu sein.
Alle die ich kenne, packten sich verzweifelt an den Kopf.
Die Pläne, die Ambitionen!
Die Literaturpreise!
Unfassbar, was die durchgemacht haben.
Nur Rimbaud verdüsterte die Laufbahn und wurde Waffenhändler.
Koranrezitationen im abessinischen Sonnenuntergang.
Der Himmel über Dschibuti.
Der Geruch nach Haschisch, Pulver und Waffenöl!
Herrgott, das bringt Schande über uns alle!
Moderne Künstler leben gesetzestreu.
Künstler zu sein ist herrlich.
Fast so gut wie Gitarre zu spielen.
Elektrische Gitarre.
Muddy Waters hat die Elektrizität erfunden.

Ich habe jetzt eine Frau bei mir.
Sie blickt nicht zurück.
Alles wird bald besser. Alles.
Ich schicke diese Karte aus Wala Wala, von unterwegs zu einer Südseeinsel.
Und wir fliegen nur des Nachts.
Das Dunkel um uns.
Die erleuchteten Städte.
Die Sterne.


Aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel
die horen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Band 3/1991, Ausgabe 163